Bericht
von der Jahrestagung 2022 in Meißen
Christsein im Alltag
Bericht von der Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum in Meißen
Die bisherigen Jahrestagungen des Bundes wurden bisher meist im Norden, Westen und Süden unseres Landes ausgetragen. Die Tagung 2022 unter dem Titel „Christsein im Alltag. Impulse des liberalen Christentums“ fand vom 30. September bis 2. Oktober nun endlich auch einmal im Osten Deutschlands statt, in der an der Elbe gelegenen schönen sächsischen Stadt Meißen, die vor allem für ihre seit 1710 bestehende Porzellanmanufaktur berühmt ist, aber auch für ihre altertümlichen gepflasterten Gassen, die bis hinauf zum Burgberg führen, auf dem sich die Albrechtsburg, der Meißner Dom, das Bischofsschloss und die Dompropstei befinden (s. Bild). In unmittelbarer Nähe des Berg-Ensembles liegt auch der Klosterhof St. Afra, dessen Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückgeht und in dem sich heute die Evangelische Akademie Sachsen befindet, mit der zusammen die Tagung veranstaltet wurde (ein weiterer Partner war die Evangelische Akademie Frankfurt).
Hatten sich frühere Jahrestagungen vor allem mit diversen theoretischen und akademischen Themen auseinandergesetzt, sollte diese Tagung die praktische Dimension des liberalen Christseins beleuchten: Die Ausgangsfrage lautete: Wie kann in einer von Krisen geschüttelten Welt ein verlässliches menschliches Miteinander gelingen, um ein freies Christentum in einer glaubwürdigen und überzeugenden Weise zu leben? Die Tagung sollte im Geist eines liberalen, weltoffenen und reflektierten Christentums Antworten auf diese Frage geben.
Akademiedirektor Stephan Bickhardt begrüßte am Freitagabend die rund 40 Tagungsteilnehmer, die aus allen Teilen der Republik und auch aus der Schweiz nach Meißen gekommen waren. Glaubwürdiges Christsein sei nur durch Mitmenschlichkeit möglich, sagte Bickhardt, müsse aber auch die großen gesellschaftlichen Themen ernst nehmen. Dazu erinnerte er an den etwas aus dem Blick geratenen Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, der nie so aktuell gewesen sei wie heute.
Prof. Dr. Werner Zager, seit nunmehr 20 Jahren Präsident des Bundes, stellte den Tagungsteilnehmern den Bund für Freies Christentum vor und führte in das Thema ein, indem er fragte: „Wie können wir in einer zunehmend religionslosen Umgebung als Christen glaubwürdig leben? Wie finden wir eine neue religiöse Sprache, die verständlich ist? Und wie kann christliches Leben praktisch gelingen? In seinem Vortrag konzentrierte er sich auf die Frage, wer uns als „Vorbild“ dienen könne. Denn der christliche Glaube kann auf Vorbilder nicht verzichten, seien doch die meisten von uns Christen geworden, weil Menschen in unserem Umfeld uns als glaubwürdige Vorbilder angespornt hätten. Auch die Bibel habe in vielfältiger Weise von Vorbildern gesprochen, die man nachahmen solle – darunter Abraham, Paulus, Timotheus, Titus und natürlich Christus, das ultimative Vorbild. Bei diesen christlichen Vorbildern gehe es vor allem um ein Leben der Hingabe, des Gehorsams, der Demut und der Wahrhaftigkeit. Zager stellte mit Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King drei christliche Vorbilder der Moderne vor, die für viele Zeitgenossen ein beispielhaftes und nachahmenswertes Leben gelebt hatten. Aus der Sicht Albert Schweitzers, der dem medizinischen Dienst Vorrang vor einer akademischen Karriere einräumte und der sich dabei eng an Jesus orientierte, ging es aber weniger darum, Jesus nachzuahmen, als darum, sich in Jesu Sinne den uns jeweils neu gegebenen Aufgaben zu stellen. Bonhoeffer war ein Beispiel dafür, dass der Widerstand eine angemessene Form christlicher Nachfolge sein kann – und gegebenenfalls auch sein muss, notfalls sogar gegen eine Kirche, die auf Irrwege geraten ist. Martin Luther King hatte seine eigenen Vorbilder in Gestalt von Walter Rauschenbusch und Mahatma Ghandi und verband seine Botschaft von der Emanzipation der Schwarzen nicht nur mit dem Prinzip der Gewaltlosigkeit, sondern auch mit einem liberalen Christentum. Bonhoeffer und King waren Beispiele dafür, dass christliche Hingabe und Gehorsam gegebenenfalls auch die Bereitschaft zum Martyrium einschließen.
Am Samstag sprachen Dr. Michael Großmann und Prof. Dr. Hans-Georg Wittig zum Thema: „Wie kann menschliches Miteinander gelingen?“ Dazu erläuterte Großmann Gegensätze wie Ästhetik und Ethik, Moral und Ethik, Absolutismus und Relativismus, Sein und Sollen. Unser Alltag spiele sich in mehreren solcher Spannungsfelder ab. Unterschiedliche Kulturkreise hätten beispielweise unterschiedliche Schönheitsempfindungen und divergierende moralische Normen entwickelt. Eine Verabsolutierung der eigenen Sichtweisen und Wertsysteme, insbesondere einer religiösen Ethik, wird das Miteinander erschweren. Manche befürworten darum einen Relativismus, der ethische, erkenntnistheoretische, sprachliche oder auch ontologische Ausprägungen annehmen kann.
Dem Relativismus steht ein Universalismus gegenüber, der zumindest für einige Grundanliegen eine allgemeine Gültigkeit beansprucht, die auch über alle Kulturgrenzen hinweg gilt. Er kann sich u.a. darauf berufen, dass es Handlungen gibt, die in allen Kulturen verabscheut werden. Gleichwohl unterscheiden sich Normen und Ethiken erheblich von Kultur zu Kultur. Die Frage ist: Wie kann ein menschliches Miteinander angesichts solcher Diversitäten gelingen? Indem wir die Unterschiedlichkeit unserer Prägungen und auch die allgemeine Natur des Menschen in Rechnung stellen, der oft das Gute will und dabei trotz guter Absichten moralisch zuweilen scheitert und schuldig werden kann.
Prof. Wittig nahm den gegenwärtigen Ukraine-Konflikt zum Anlass, daran zu erinnern, dass der Mensch mit dem Wissen um die Atombombe die eigene Vernichtung herbeiführen kann. Darum gelte heute mehr denn je, dass politische Konflikte anders als durch Krieg gelöst werden müssten. Moderne Waffen hätten die inhärente Tötungshemmung des Menschen schon längst entschärft. Krieg sei, wenn viele Menschen, die sich nicht kennen, sich gegenseitig massenhaft töten auf Befehl einiger weniger Mächtiger, die sich kennen und sich nicht gegenseitig töten. Der Ukraine-Konflikt zeige, dass sich die Menschen nicht ausreichend um Alternativen zum Krieg gekümmert hätten. Dazu sei aber die rechtzeitige Dramatisierung von Konflikten vonnöten.
Wittig sprach auch über die Goldene Regel („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“), auch über Verantwortungsethik, die dem Einzelnen abfordere, selbstständig nach Lösungen für ethische Probleme zu suchen; sodann auch über die Liebe als rettende Möglichkeit sowie über die Ehrfurcht vor dem Leben. Die Kirchen seien aufgerufen, Dialogforen anzubieten, und müssten in einer Zeit zunehmender Polarisierung einen Beitrag zur Sachlichkeit leisten. Im Bedarfsfall sei es auch legitim, zivilen Ungehorsam zu praktizieren. Dabei gelte es jedoch, von Ghandi zu lernen: Unsere Ziele müssten gerecht sein, unsere Methoden gewaltfrei, und notfalls gehöre auch die Bereitschaft dazu, Leiden und Strafen hinzunehmen.
Raphael Zager, Vikar in Wiesbaden, dessen Dissertation kurz vor der Veröffentlichung steht, sprach zu der Frage, wie wir unsere christlichen Glaubenserfahrungen in Worte fassen können. Ist es notwendig, dafür eine neue religiöse Sprache zu finden? Religiöse Erfahrung und unsere religiöse Sprache stehen in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Eines bedinge das andere. Wer nicht in einer religiösen Sprachwelt erzogen wurde, dem wird die traditionelle religiöse Sprachwelt als Fremdsprache vorkommen.
Doch worin bestehen unsere Glaubenserfahrungen, die nach sprachlichem Ausdruck drängen? Sie können im Zusammenhang mit Naturerlebnissen stehen, mit Erfahrungen der Gerechtigkeit und des Friedens, mit der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Frage nach dem Ursprung der Welt, mit Tod und Sterben und dem Recht auf Leben.
Was immer wir an Glaubenserfahrungen machen, es gelte für die heutige Generation eine neue Sprache zu finden, mit der sich gerade junge Menschen identifizieren können. Laut Erik Flügge (vgl. sein Buch „Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“) müssten heutige Predigten gekennzeichnet sein durch Relevanz, Emotion, Pointiertheit (= direkte Sprache) und theologische Substanz. Raphael Zager meinte, auch eine liberale Theologie sei dazu aufgerufen, ihre Anliegen in eine verständliche Gegenwartssprache zu übersetzen.
Dr. Eberhard Pausch, Studienleiter für Religion und Politik an der Evangelischen Akademie Frankfurt und seit kurzem neues Vorstandsmitglied des Bundes, referierte am Samstagnachmittag zu den Themen Atheismus und Fundamentalismus. Atheismus sei nicht gleich Atheismus. Pausch unterschied zwischen einem theologischen Atheismus (Beispiel: Dorothee Sölle), einem moderaten agnostischen Atheismus, einem skeptischen Atheismus (Beispiel: Stephen Hawking), einem aggressiven Atheismus (Beispiel: Richard Dawkins) und einem gleichgültigen Atheismus. Letzterer zeichne sich durch ein allgemeines Desinteresse an allem Religiösen aus. Vertreter der beiden letzten Varianten seien für Christen die schwierigsten Gesprächspartner. Der christliche Fundamentalismus zeichne sich, vereinfacht gesagt, vor allem durch ein Festhalten an den nachfolgenden Lehren aus:
Irrtumslosigkeit der Bibel, Jungfrauengeburt, Gottheit Christi, Sühnopfertheologie, leibliche Auferstehung sowie die Wiederkunft Christi zum Endgericht. Ein fruchtbares Gespräch mit Fundamentalisten sei vor allem wegen ihrer häufig praktizierten Argumentationsverweigerung schwierig, wenn nicht unmöglich.
Ein Dialog mit Fundamentalisten und Atheisten sei nur möglich unter der Prämisse einer wahrheitsbezogenen, offenen Argumentationskultur, bei der auch Logik und Vernunft nicht ausgeblendet werden. Extreme und gefährliche Formen des Fundamentalismus müssten durch staatliche Maßnahmen eingehegt werden. Vor allem aber gelte es, den Andersdenkenden auf der menschlichen Ebene zu begegnen, durch Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und auch die Bereitschaft zur Vergebung. Grundsätzlich sei zwar nichts gegen einen christlichen Fundamentalismus einzuwenden, dessen Grundlage Christus ist, es müsse aber auch die prinzipielle Unverfügbarkeit des religiösen Erlebnisses in Rechnung gestellt werden.
Den letzten Vortrag hielt am Sonntag Pfarrer Ingo Zöllich, der zum Thema „Zum Glück nicht allein. Lebenskunst und liberales Christentum“ referierte. Er stellte dazu das Leben des Niederländers Karel van Wieringen beispielhaft vor, mit dem Jan Offringa ein Gespräch geführt und veröffentlicht hatte. Glücklich kann man nicht allein sein. Der andere spielt immer mit. Ich lasse andere an der Gestaltung meines Lebens teilhaben und nehme selbst am Leben anderer teil. Aber ein erlebtes Glücksgefühl kann abflachen, wenn es zur Gewohnheit wird. Lebensglück ist nicht in jedem Falle machbar. Vieles ist vorgegeben, manches steuerbar. Wir lavieren zwischen Wirkmacht und Ohnmacht.
Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und für eine lebbare Welt zu arbeiten. Das Motto soll heißen: „Das Leben lebbar zu machen.“ Dazu bedarf es sowohl der Eigenverantwortung als auch der staatlichen Verantwortung. Nicht alles darf vom Staat erwartet werden, und wo staatlichem Handeln Grenzen gesetzt sind, ist Eigenverantwortlichkeit gefordert. Das kann man als „Lebenskunst“ verstehen, für die wir keine festen Regeln an die Hand bekommen. Vielmehr werden wir immer wieder in Situationen hineingestellt, für die wir je neu bestimmen müssen, was zu tun sei. Dabei spielen individuelle Freiheit, Gottvertrauen und auch die Gnade ein Rolle.
Anschließend folgte noch eine Podiumsdiskussion mit den Referenten und Teilnehmern, die von Akademiedirektor Stephan Bickhardt moderiert wurde und bei der u.a. gefragt wurde, wie sich ein liberales Christentum, wie es der Bund vertritt und wie es beim Kirchenvolk eigentlich auf große Resonanz stoßen müsste, besser hörbar machen kann. Und angesichts der Tatsache, dass es zahlreiche Gründe gebe, sich zu kirchlichen Themen zu äußern, wäre zu fragen: Wo bleibt die Stimme des Bundes?
Am Samstagmorgen hielt Pfarrerin Dagmar Gruß, seit kurzem Vorstandsmitglied im Bund, eine Andacht, in der sie u.a. von der (nur alle acht Jahre stattfindenden) Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) Anfang September berichtete, die zum ersten Mal in Deutschland (Karlsruhe) ausgerichtet wurde.
Das Treffen stand im Zeichen bedrohter Ethnien, die als ihre Devise ausgaben: „Unsere Zukunft ist unsere Vergangenheit“.
Pfarrerin Gruß sprach auch zum Christsein im Alltag. Sie rief u.a. dazu auf, das Wegwerfen zu verlernen, Nahrung als Gabe zu verstehen, Ereignisse als Widerfahrnisse zu begreifen und sich ein Eingreifen ins Weltgeschehen zuzutrauen. Am Samstagnachmittag gab es Gruppendiskussionen, die sich näher mit Aspekten der vorgetragenen Themen befassten.
Am Samstagabend durften die Tagungsteilnehmer einem Orgelkonzert unseres Vorstandsmitglieds Dr. habil. Wolfgang Pfüller in der St.-Afra-Kirche lauschen, der seine Darbietung als Hommage an César Franck zu dessen 200. Geburtstag verstand und entsprechende Erläuterungen dazu gab.
Zum Abschluss der Tagung fand am Sonntag ein Gottesdienst mit Eucharistiefeier im Meißner Dom statt, in der Pfarrerin Dorothea Zager die Predigt über 2Tim 1,7 hielt. Nicht Furcht dürften unseren Alltag als Christen bestimmen, sondern Kraft, Liebe und Besonnenheit.
Insgesamt wurde die Tagung von den Teilnehmern als gelungen und inspirierend empfunden. Das traditionelle Ambiente und die schöne Stadt Meißen trugen zu einem insgesamt schönen Erlebnis (oder: Widerfahrnis) bei.
Fotos: Raphael Zager, Dorothea Zager