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2019-06-08

Georges Lemaître und die Reichweite des Urknalls

Ein Priester als Physiker: Vielen erscheint diese Kombination merkwürdig. Warum? Wahrscheinlich, weil sie immer noch der längst überholten Ansicht sind, dass Religiosität die naturwissenschaftliche Forschung korrumpiere. Wenn aber je ein Mensch bewiesen hat, dass Gottesglaube und Physik sehr gut in einer Person nebeneinander bestehen können, dann war dies Georges Lemaître.

Am 17. Juli gedenken wir des 125. Geburtstages dieses außerordentlichen Menschen. Gläubig war er von Kindheit an und technisch interessiert ebenfalls. Doch zunächst deutete nichts darauf hin, dass aus ihm einmal der Begründer einer der spektakulärsten astrophysikalischen Theorien werden würde. Nach dem Besuch einer Jesuitenschule entschied er sich – auch auf Drängen seines Vaters – für ein Ingenieursstudium. Doch der Erste Weltkrieg durchkreuzte Lemaîtres berufliche Pläne. Er meldete sich freiwillig zum Militärdienst. Nachdem er die Kriegsjahre überstanden hatte, sah er seine doppelte Bestimmung deutlich: Er begann ein Studium der Physik und Mathematik und schrieb sich zusätzlich am Priesterseminar ein.

Nach Abschluss seiner Studien (unter anderem am MIT) übernahm er im Jahr 1925 eine Professur an der Universität Löwen. Nur etwa zwei Jahre später veröffentlichte er in einer eher unbekannten Fachzeitschrift einen Aufsatz, der ihn später berühmt machen sollte. Seine Idee: Das Universum ist nicht statisch und seit Ewigkeiten existent, sondern es entstand aus einem Uratom, einem „kosmischen Ei“, und expandiert seitdem. Am Anfang stand also etwas, was sehr bald als „Urknall“bzw. als „Big Bang“ bezeichnet wurde – die letztere Bezeichnung prägte der Physiker Fred Hoyle, der ein erklärter Gegner dieser Hypothese war. Natürlich gebar Lemaître seine Idee nicht allein. Wie alle bedeutenden Wissenschaftler konnte auch er weiter blicken als seine Vorläufer, weil er auf deren Schultern saß. So bildeten Einsteins revolutionäre Gedanken zur Relativität von Raum und Zeit ein unverzichtbares Fundament der Urknalltheorie. Und zeitgleich mit Lemaître entwickelten der Mathematiker Alexander Friedmann und der Physiker Edwin Hubble Gedanken zu einem sich verändernden Universum. Doch Lemaître wird heute als eigentlicher Begründer der Urknalltheorie angesehen.

Diese Leistung konnte er nur vollbringen, weil er seine Religiosität ausblendete, wenn er naturwissenschaftlichen Studien betrieb. Vor Jahrhunderten hatte Hugo Grotius die These formuliert, das Völkerrecht sei gültig, „etsi Deus non daretur“ – auch wenn es Gott nicht gäbe. Dasselbe forderte Lemaître auch für die Forschung innerhalb der Astrophysik. Auch wenn zwei Seelen in seiner Brust wohnten, schied er diese doch streng voneinander. Dies schien dringend geboten, denn allzu verführerisch war es für gläubige Christen, im Urknall eine Bestätigung der biblischen Schöpfungstexte zu erblicken. Der prominenteste derer, die dieser Verführung erlagen, war Papst Pius XII. Seine Ansicht rief bei Lemaître schärfsten Widerspruch hervor. Nichts lag ihm ferner als die Intention, physikalische Hypothesen zur Stützung theologischer Dogmen heranzuziehen. Mit aller Macht wehrte er sich gegen derartige Grenzverletzungen.

Auch an einer anderen Frontlinie – nun allerdings im Binnenraum der Physik – sah er sich Angriffen ausgesetzt. Seiner Urknalltheorie war – obwohl sie heute weitgehend als zutreffend anerkannt ist – zu Beginn keineswegs einhelliger Beifall beschieden. Allen voran Albert Einstein wollte sie nicht akzeptieren, weil sie seiner Vorstellung von einem ewigen Universum zuwiderlief. Es dauerte seine Zeit, bis aus Lemaîtres Idee ein weithin anerkanntes Paradigma der Astrophysik wurde.

Die religiösen Eiferer in ihre Schranken gewiesen, die Physiker auf Linie gebracht – ist also über die Urknalltheorie das letzte Wort gesprochen? Einerseits natürlich nicht, denn in der Naturwissenschaft wird niemals ein letztes Wort gesprochen. Spätestens seit den Arbeiten des Philosophen Karl Popper wissen wir, dass Erfahrungswissenschaften immer nur vorläufige Wahrheiten präsentieren können. Hypothesen müssen jeweils angeben, unter welchen Bedingungen sie widerlegt sind. Wir müssen nicht nach Bestätigung, sondern nach der so genannten Falsifikation suchen. Das Standardbeispiel: Wer die Theorie, dass es nur schwarze Raben gibt, überprüfen will, wird nicht die vielen Situationen, in denen er schwarze Raben gesehen hat, protokollieren und darin eine Bestätigung der Theorie erblicken. Vielmehr wird er sich auf die Suche nach Raben machen müssen, die nicht schwarz sind. Wenn er auch nur ein einziges Exemplar eines weißen oder grünen oder sonst wie nicht-schwarzen Raben erblickt, ist die ursprüngliche Theorie widerlegt (sofern sie durch eine neue ersetzt wird). Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: Ein weißer Rabe der Urknalltheorie ist weit und breit nicht in Sicht: Nach derzeitigem Forschungsstand kann kein vernünftiger Zweifel an ihrer Plausibilität bestehen: Rechnen wir von der beobachtbaren Expansion des Universums zurück, gelangen wir zu jenem Zustand vor ca. 14 Milliarden Jahren, an dem das All praktisch punktförmig komprimiert gewesen sein muss, um sich dann in einer Anfangsphase – „kosmische Inflation“ genannt – sehr stark auszudehnen. Viele Fragen sind noch offen – vor allem die, warum das Universum aktuell eher schneller als langsamer expandiert. Außerdem kann die Astrophysik nicht zum absoluten Anfang des Urknalls, sondern nur bis zur so genannten „Planck-Zeit“ vorstoßen. Was jenseits dieser Grenze liegt (und innerhalb eines Zeitraums liegt, gegen den ein Wimpernschlag eine halbe Ewigkeit ist), kann die Physik mit den von ihr formulierten Gesetzen nicht erfassen. Doch um es noch einmal zu betonen: Es gibt derzeit keine sinnvolle Alternative zur Urknalltheorie. Doch bleiben in zweierlei Hinsicht – mit Blick auf die Beziehung zur Religion und mit Blick auf das Fortschreiten der physikalischen Forschung – Unsicherheiten und offene Fragen bestehen.

Beginnen wir mit der Physik: Die Belege, die für die Urknalltheorie sprechen, sind wie gesagt überwältigend.Doch sind vor diesem Hintergrund die Ideen so abwegig, dass der Kosmos keinen Anfang hat? Denn wir müssen uns nur einmal vor Augen führen, dass beim Urknall ja eine gigantisch hohe Energie vorhanden gewesen sein muss. Ganz naiv können wir fragen: Woher soll diese Energie gekommen sein? Aus dem Nichts? Das wäre eine allzu billige Antwort. Daher verwundert es nicht, dass eine bedeutende Zahl von Kosmologen die Vermutung äußert, dass unser Universum zwar entstanden, aber lediglich Teil eines ewigen Energiefeldes ist, eines – bildlich gesprochen – unendlichen Ozeans, auf dem sich zuweilen Wellen in Form einzelner Universen kräuseln. Vielleicht gilt für jedes dieser Universen eine eigene Physik. Wir sehen uns also der Theorie des Multiversums bzw. der vielen Welten gegenüber. Sie ist hochspekulativ und wird wohl so bald nicht zu empirisch überprüfbaren Hypothesen führen. Sie liegt also jenseits der Physik, sie ist Metaphysik. Dass es sich bei dieser Idee nicht um postmoderne Spielerei handelt, zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher: Bereits in der Antike – etwa in der Person des Demokrit-Schülers Metrodoros von Chios – hatte die Vielweltentheorie ihre Anhänger. Metrodoros wird die Frage zugeschrieben, warum auf einem großen mit Hirse bewachsenen Feld nur ein einziges Korn wachsen solle. Warum soll es also nur unser Universum geben, wenn unendlich viele weitere Universen möglich sind?

Denken wir weiter, haben wir die Sphäre der Physik rasch transzendiert und landen zum Schluss doch wieder bei der Religion. Auch wenn die Kirchenoberhäupter von Pius XII. bis Johannes Paul II. falsch lagen, als sie die Kosmologie für die Theologie vereinnahmen wollten: Ein unverbundenes Nebeneinander von Naturwissenschaft und Religion zu postulieren, wäre sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn schließlich zerfallen wir in unserem Leben nicht in zwei Hälften: Wer sich in mehreren Sphären bewegt, bleibt dabei doch ein Mensch. Nichts belegt das besser als die Tatsache, dass Physiker, wenn sie ihr Labor verlassen und die Normalsterblichen über ihre Theorien in Kenntnis setzen, die Sprache der mathematischen Symbole und Gleichungen in die Sprache der alltäglichen Lebenswelt übersetzen müssen. Werden dann die Metaphern und Bilder, die die Wissenschaftler benutzen, mit denen der Religionen verglichen, ergeben sich erstaunliche Parallelen. So lassen sich etwa in der indischen Religion Anklänge an die Vielweltentheorie finden, wenn dort davon gesprochen wird, dass Vishnu beim Ausatmen eine neue Welt schafft und sie beim Einatmen wieder in sich zurücknimmt.

Bei allem Stolz auf ihre Leistungen sollten die Naturwissenschaftler bedenken, dass sie keine Gesamtsicht der Welt anbieten, dass ihr Blick nur dieses Universum erfasst, das einerseits vielleicht lediglich einen winzigen Teil des Multiversums ausmacht. Andererseits ist es nicht mit der Welt zu verwechseln, die – um mit Wittgenstein zu sprechen – die Gesamtheit aller Tatsachen darstellt. Und zu diesen Tatsachen gehören Europawahlen, die Deutung von Kunstwerken, die Mythen, die Erzählungen und und und. Die Welt eröffnet uns eine Unmenge von Perspektiven, aus denen wir sie betrachten können. Und es muss etwas geben, was all diese Sichtweisen möglich macht, von ihnen aber nicht mehr erfasst wird. Georges Lemaître dürfte wie kaum ein anderer ein Gespür für diese Zusammenhänge gehabt haben.
 
Michael Großmann

Admin - 09:59:29 @ Allgemein | Kommentar hinzufügen