Bericht
von der Jahrestagung 2024 in Frankfurt
Die Frankfurter Schule und das freie Christentum
Bericht von der Jahrestagung des Bundes
von Dr. Kurt Bangert
Die Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum fand in diesem Jahr in Frankfurt a.M. statt, weil dort vor 100 Jahren das Institut für Sozialforschung gegründet wurde, das als „Frankfurter Schule“ bekannt wurde und für seine „Kritische Theorie“ steht, die vor allem mit den Namen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und nicht zuletzt auch Jürgen Habermas in Verbindung gebracht wird. Die Tagung sollte ergründen, welche Beziehung die Frankfurter Schule zu einem liberalen Christentum erkennen lässt.
Die Zusammenkunft, die vom 27. bis 29. September 2024 in der Evangelischen Akademie Frankfurt in unmittelbarer Nähe des Frankfurter Römer stattfand, wurde von der Studienleiterin Dr. Margrit Frölich und dem Präsidenten des Bundes, Prof. Dr. Werner Zager, eröffnet, der kurz in die Grundgedanken der „Kritischen Theorie“ einführte.
Dr. Eberhard Pausch, Referent im Hessischen Ministerium für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales sowie Mitglied im Vorstand des Bundes, zeichnete in einem ersten Vortrag am Freitagabend den Beginn des Frankfurter Instituts für Sozialforschung nach, deren erster Direktor der Sozialdemokrat Carl Grünberg war, dem dann der parteilose Max Horkheimer folgte, der seine Berufung vor allem dem Theologen Paul Tillich verdankte. In Frankfurt studierte und lehrte auch Theodor W. Adorno, der aber erst zum Institut stieß, als dieses in der Zeit des Nationalsozialismus nach New York abgewandert war. 1951 kehrte es wieder nach Frankfurt zurück. 1964 kam Jürgen Habermas nach Frankfurt, wo er die Professur Horkheimers übernahm.
Horkheimer und Adorno hatten 1944 das programmatische Buch Dialektik der Aufklärung veröffentlicht, das 2022 in seiner 26. Auflage erschien ist. Darin beklagten sie, dass die Aufklärung geradewegs zur Barbarei der Naziherrschaft geführt habe. Sie vertraten die These, dass die Aufklärung, die sich dazu berufen wusste, die alten religiösen Mythen zu überwinden, selbst wieder zu einem neuen Mythos geworden sei.
Eberhard Pausch erläuterte dann einige Begriffe der Frankfurter Schule, wie den Marxismus, der ein Ergebnis der Aufklärung gewesen sei und eng mit dem Begriff der Kritik zu verbinden war. Der Marxismus sei auch eine teleologische Geschichtsphilosophie gewesen, die den Fortschritt vorausgesetzt habe. Die Kritik der Frankfurter Schule müsse auch als Kritik an der Aufklärung angesehen werden, ja, sogar als Kritik an der Kritik. Die Aufklärung sei als ein stets unabschließbarer Prozess der Selbstreflexion zu verstehen.
Pausch zufolge lässt sich die Dialektik der Aufklärung als „Aufklärung 2.0“ bezeichnen, doch sei auch noch eine weiterführende „Aufklärung 3.0“ vonnöten, unter der dann ein Denken zu verstehen sei, das u.a. „die Wahrung der Würde der Menschen ebenso wie die Bewahrung der vulnerablen Natur als Lebensraum der Menschen zum Ziel hat“.
Pausch erläuterte auch den Begriff der „Dialektik“ und ging in diesem Zusammenhang auf Herbert Marcuse ein, der mit seinem Buch Der eindimensionale Mensch Furore gemacht hatte, in dem er die formale Logik als „eindimensional“ und defizitär abwertete, wohingegen nur das dialektische Denken ein „zweidimensionales“ sei. Die eindimensionale Denkweise sei aber der Grund für die Aporien der Industriegesellschaft und des Spätkapitalismus.
Pausch befasste sich sodann mit einigen enigmatischen Sätzen, die durchaus typisch für die Kritische Theorie seien – etwa: „Das Ganze ist das Unwahre“ oder „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt“ (Adorno). Gemäß Horkheimer und Adorno habe die Wahrheit einen Zeitkern und dürfe nicht als ewig oder unveränderlich gedacht werden. Pausch sprach von der „wahrheitstheoretischen Sackgasse der Frankfurter Schule“.
Sodann plädierte Pausch auch für eine Praxis der Veränderung, für die sich unterschiedliche Haltungen anböten: eine utopische, eine optimistische, ein optimistischer Realismus, ein Realismus, ein pessimistischer Realismus und ein dystopischer Pessimismus. Insgesamt kritisierte Pausch viele Aussagen der Frankfurter Schule, die oft unverständlich oder vieldeutig seien.
Schließlich suchte Pausch auch Konvergenzen zwischen der Frankfurter Schule und der liberalen Theologie aufzuzeigen. Anknüpfungspunkte sah er darin, dass die wissenschaftliche Theologie auch Aussagen bejahe, deren Wahrheit sie a priori voraussetzt; dass sie sich grundsätzlich zum Fallibilismus (d.h. zur Irrtumsfähigkeit) bekenne; dass sie kein dogmatisches Offenbarungswissen voraussetze, sondern in allem, was sie glaubt, vernünftig einsehbare Gründe vorbringen wolle; dass die Geschichte nicht von vornherein determiniert sei, sondern stets offen bleibe – es also auch noch genügend Raum für Hoffnung gibt; und dass sie sich schließlich auch eine kapitalismuskritische Sichtweise aneignen kann.
Insgesamt hinterließ Pausch den Eindruck, die Kritische Theorie mehr zu kritisieren, als ihre positiven Errungenschaften herausgearbeitet zu haben. Insofern war dann die Samstagmorgenandacht ein interessanter Kontrapunkt, weil sich hier ein Pfarrer und eine Pfarrerin ein Wortgefecht über die Kritische Theorie lieferten, bei dem Ingo Zöllich sein Misstrauen gegenüber der Frankfurter Schule zum Ausdruck brachte, während Dagmar Gruß über ihre positiven Erfahrungen berichtete. Sie berief sich vor allem auf das Buch Minima Moralia von Adorno, in dem dieser die Lehre vom richtigen Leben und die „Einrichtung der Welt“ thematisiert hatte. Ein richtiges Leben sei unter den Bedingungen einer unmenschlich gewordenen Gesellschaft, in der die Menschen zu degradierten Wesen gemacht würden, nicht mehr möglich.
Der in Philosophie und Theologie promovierte, noch sehr jugendliche Österreicher Dr. Dr. Klaus Viertbauer thematisierte in seinem Vortrag am Samstagvormittag vor allem Jürgen Habermas, den noch lebenden Vertreter der Frankfurter Schule. Viertbauer behandelte zunächst den Unterschied zwischen der Traditionellen und der Kritischen Theorie. Während die Traditionelle Theorie – nach Horkheimer – ganz in der Rekonstruktion der wissenschaftlich-technischen Tätigkeit mit ihren logischen Zusammenhängen gefangen bleibe, bemühe sich die Kritische Theorie, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abzustecken sowie die Rolle des Subjekts in diesem Prozess zu klären.
Sodann befasste sich Viertbauer mit der Rolle der Religion bei Habermas, der sich bekanntlich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet hatte. In seiner zweibändigen Theorie des kommunikativen Handelns beschäftigte sich Habermas erstmals mit der Religion, wobei er der Religion eine funktionalistische Deutung im Sinne einer Normbegründung vormoderner Gesellschaften gab, während die Normen in modernen Gesellschaften diskursiv ausverhandelt würden (nachmetaphysisches Denken). Viertbauer sprach von der „Aufhebung“ des religiösen Denkens. Insbesondere die Philosophie kann sich das, wovon in der Religion die Rede ist, „nicht als religiöse Erfahrung zu eigen machen“. Deshalb sei unbedingt am Unterschied zwischen Philosophie und Theologie festzuhalten, sodass die beiden Bereiche nur im Sinne einer „Koexistenz“ ihre jeweilige Berechtigung haben. Allerdings findet bei Habermas dann noch eine weitere Entwicklung von dieser Koexistenz hin zu einer „Kooperation“ statt; denn gerade im Hinblick auf ethische Fragestellungen (vgl. etwa die Präimplantationsdiagnostik) bedürfe es einer kooperativen Einbindung von Glaubens-, Religionsgemeinschaften und Kirchen.
Viertbauer behandelte dann den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“, den Habermas erstmals in seiner Frankfurter Friedenspreisrede über Glauben und Wissen im Jahr 2001 zur Diskussion stellte. Damit meinte Habermas eine Diskurstheorie, bei der die Glaubens- und Religionsgemeinschaften an den diskursiven Prozessen von Normbegründungen beteiligt werden sollten. Um aber als ernsthafte Diskussionspartner im Ringen um eine angemessene Normbegründung anerkannt zu werden, müssten die Religionen Andersgläubige als ebenbürtig akzeptieren, dürften sie auch die Wissenschaft in ihrer wissenschaftlichen Autorität nicht infrage stellen, und müsste auch die deutsche Verfassung als Grundlage anerkannt werden. Zwar sei das Christentum als Mitstifterin dieser postsäkularen Gesellschaft zu verstehen, doch müssten – nach Viertbauer – auch die Muslime, die ja bereits einen Großteil der deutschen Gesellschaft ausmachen, in diesen Dialog einbezogen werden.
Weil die vorgesehene Referentin des nächsten Vortrags krankheitsbedingt ausfiel, wurde das Referat von Prof. Dr. Werner Zager vorgezogen.
Er behandelte das Thema „Hat die Aufklärung der Vernunft zu viel zugetraut?“ aus theologischer Sicht. Aufklärung bedeute, Kant zufolge, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Und sie beinhalte das kritische Überprüfen dessen, was andere uns vorgeben. Von hier aus lasse sich der Wechsel von der Traditionellen zur Kritischen Theorie ableiten. Die Traditionelle Theorie diene der Legitimierung des Bestehenden, während die Kritische Theorie auf eine Veränderung der Gesellschaft zum „Richtigen“ abziele, zur Emanzipation aus versklavenden Verhältnissen.
Um die Frage zu beantworten, ob die Aufklärung der Vernunft zu viel zugetraut habe, müsse klargemacht werden, so Zager, dass Aufklärung oft als Fortschrittsglaube verstanden wurde. Kant selbst hatte sich erhofft, dass die Völker sich soweit entwickeln würden, dass ihre Regierungen der Würde des Menschen gemäß handeln würden. Bei dem anvisierten Fortschritt müsse aber zwischen Verstand und Vernunft unterschieden werden. „Verstand untersucht Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, und er kann das Wissen um solche Kausalzusammenhänge technisch anwenden, indem er Ursachen als Mittel einsetzt, um bestimmte Wirkungen als Zwecke zu erreichen. Ob diese Zwecke wertvoll sind, fragt er nicht mehr – das ist Aufgabe der Vernunft.“, zitierte Zager Hans-Georg Wittig, Vorstandsmitglied des Bundes, der auch unter den Zuhörern weilte.
In ähnlicher Weise habe Tillich zwischen technischer und ontologischer Vernunft unterschieden. Horkheimer und Adorno hätten dann von einer „instrumentellen Vernunft“ der Aufklärung gesprochen, die auf die Beherrschung der Natur ausgerichtet sei. Im Faschismus und Monopolkapitalismus habe dies schließlich zur institutionalisierten Herrschaft von Menschen über Menschen geführt. Einem solchen Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung gelte es durch Selbstkritik Einhalt zu gebieten. Vernunft dürfe nicht von der Moral getrennt werden. Und Kant zufolge verbiete es sich, Vernunft nur auf den Selbsterhaltungstrieb zu reduzieren. Daraus folge der praktische Imperativ: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals als Mittel brauchest.“ Nur eine durch Moral begrenzte Vernunft, die mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde ernst macht, ist eine aufgeklärte Vernunft.
Bedarf die Moral der Religion? Kant zufolge nein. Anders Horkheimer, der alles, was mit Moral zusammenhängt, letztlich auf Theologie zurückführte. Theologie verband er mit der Hoffnung, „dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge“.
Zager befasst sich dann mit Gott als dem Postulat der praktischen Vernunft oder als die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Auch wenn wir nicht wissen können, ob Gott existiert, müssen wir (Kant zufolge) doch an einen moralischen Weltherrscher glauben, weil wir nur so in die Pflicht genommen werden können, das höchste Gut zu verwirklichen. Horkheimer sprach weniger vom Glauben als von der Hoffnung, „dass es ein positives Absolutes gibt“. Aber Horkheimer benötigte keinen Gott, um das Handeln gegenüber anderen Menschen zu bestimmen. „Es kann
einfach die Tatsache sein, dass mein Leben, selbst wenn ich es für den anderen Menschen opfern muss, durch die Reaktionen des Anderen verschönt wird.“
Resümierend stellte Zager dann klar, dass die Aufklärung der Vernunft dort zu viel zugetraut habe, wo sie die Widerstände unmündigen Verhaltens unterschätzt habe. Sie greife auch zu kurz, sofern sie nur auf die technische Vernunft bzw. den Verstand setze. Ein Zurück hinter die Aufklärung dürfe es nicht geben, insofern damit das Fortschreiten in der Erkenntnis und die Durchsetzung von Freiheit und Gerechtigkeit gemeint sei. Die Aufklärung dürfe ethisch aber nicht überfordert werden, brauche aber eine Hoffnungsperspektive, wie sie vor allem der Glaube an Gott gewähren kann.
Die Frage, ob die Aufklärung der Vernunft zu viel zugetraut habe, versuchte Dr. Michael Großmann, seines Zeichens Kant-Kenner und Mitglied im Bund für Freies Christentum, nun auch aus philosophischer Perspektive zu beantworten. Aufklärung in einem umfassenden Sinn lasse sich als Momentum der Menschheitsgeschichte verstehen, welches eine immer weiter ausgreifende Weltbeherrschung erlaubt. Aufklärung in einem engeren Sinne wurde jedoch von Horkheimer und Adorno als ein radikalisierendes und entmythologisierendes Phänomen der letzten 300 Jahre verstanden, durch das neben den alten Klassen, Stämmen und Völkern auch die alten Götter in den Staub geworfen wurden. Unser Denken sei radikal durch die Aufklärung „imprägniert“. Die Aufklärung, so könnte man sagen, das sind wir!
Aber Großmann ist von der Argumentation des Klassikers Dialektik der Aufklärung nicht in allen Fällen überzeugt. Manchen Sätzen müsse man zwar uneingeschränkt zustimmen. Aber es lassen sich „kaum stringente Argumentationsketten finden“.
„Die Gedankengebäude des Buches sind ein Beispiel für philosophische Überwältigungsarchitektur.“ Dennoch sei die Dringlichkeit der Botschaft immer noch aktuell, müssen wir uns doch fragen lassen, ob wir angesichts gegenwärtiger Bedrohungen und Krisen noch zur Vernunft kommen werden.
Auch Großmann hob den Unterschied zwischen der „Ratio“ und der „Vernunft“ hervor. Die Fähigkeit, Raketen ins All zu schießen, beruhe auf dem Verstand. Er bildet das Gerüst des logischen, zweckrationalen Denkens. Aber zu fragen, ob dieses Unterfangen auch Sinn mache, sei Aufgabe der Vernunft. Die Vernunft könne man als eine Art Hintergrundrauschen für jede Diskussion um Wahrheit und Richtigkeit verstehen.
Großmann empfahl, die Vernunft als subjektive, objektive und als absolute aufzufächern. Die subjektive Vernunft sei die Vernunft des Menschen, das Vermögen, autonom zu handeln. Die objektive Vernunft sei die Vernunft der Welt. Schon die griechische Philosophie sei von einem Logos ausgegangen, der das Prinzip der Weltordnung darstellte. Die absolute Vernunft werde indes verstanden als die Vernunft Gottes.
Der absoluten, göttlichen Vernunft habe die Aufklärung eigentlich nichts mehr zugetraut. Seit dem Lissaboner Erdbeben von 1755 habe man sich auf die göttliche Vernunft nicht mehr verlassen können. Der Mensch rückte in den Mittelpunkt und musste sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Last, welche bisher der absoluten Vernunft aufgebürdet wurde, wurde nun der subjektiven Vernunft des Menschen aufgebürdet. Sie sollte alles zum Guten wenden. Der menschliche Fortschritt war angesagt.
Doch angesichts von zwei schrecklichen Weltkriegen und Auschwitz wurde dieser Optimismus widerlegt und ins Absurde verkehrt. Hat also die Aufklärung der menschlichen Vernunft zu viel zugetraut?
Eigentlich nicht, denn wie die Geschichte zeige, haben wir doch in vielen Bereichen enorme Fortschritte erzielt: bei den Menschenrechten oder bei der Gerichtsbarkeit. Gleichwohl sitzen aber die schlimmsten Massenmörder nicht auf der Anklagebank, sondern fest im Sattel ihrer Herrschaft. Außerdem hätten gerade die aufgeklärten europäischen Mächte die übrigen Kulturen kolonisiert, unterdrückt und ausgebeutet. Die Frage, ob der menschlichen Vernunft zu viel zugetraut wurde, lässt sich darum kaum eindeutig beantworten.
Großmann resümierte: Vernunft als Horizont alles Denkens ist unhintergehbar. Ihr kann nicht zu viel zugetraut werden. Auch die Aufklärung, die an der Vernunft orientiert bleibe, sei unhintergehbar. Aber der Fortschrittsglaube der Vernunft ist trügerisch: „Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie einmal war.“ (Karl Valentin)
Und vielleicht wird sich der Mensch ja einst selbst ausrotten. Ein Lichtblick bleibe jedoch. Großmann verwies auf Odysseus, der nach einer siebenjährigen Irrfahrt die Heimreise zu Frau und Sohn antrat. „Das kann nur einleuchten, wenn man die Odyssee als Liebesgeschichte versteht.“ Vielleicht ist das die Rettung, so Großmann: eine noch über der Vernunft stehende, gegen alle Wahrscheinlichkeit wirkmächtige Liebe.
Im Anschluss an Großmanns Vortrag wurden die behandelten Themen noch einmal in drei Gruppen diskutiert.
Nach dem Abendessen gab es die öffentliche Mitgliederversammlung des Bundes für Freies Christentum, bevor Kantor Berthold Wicke am Flügel einige Klavierstücke vortrug, die Theodor W. Adorno komponiert hatte.
Den Gottesdienst am Michaelistag in der Frankfurter Heiliggeistkirche gestalteten Pfarrer Ingo Zöllich und Pfarrerin Dagmar Gruß, die anschließend über den Erzengel Michael sprach. Er soll einer der Cherubim gewesen sein, die den Zugang zum Paradies bewachten, und auch als Schutzengel Israels gedient haben. Er soll auch Daniel gerettet haben. Paul Klee malte 1920 ein Bild mit dem Titel „Angelus Novus“, das der Philosoph Walter Benjamin erwarb, der durch seine Freundschaft mit Theodor W. Adorno ebenfalls zur Frankfurter Schule gerechnet wird.
Benjamin machte den Angelus Novus zum Engel der Geschichte und schrieb über ihn: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Der Erzengel Michael war es wohl auch, der sich Dagmar Gruß zufolge gegen den Seher Bileam stellte, der aufgerufen war, Israel zu verfluchen, aber nach einer Offenbarung das Volk stattdessen segnete: „Wie kann ich etwas anderes reden, als was mir Gott in den Mund gibt? Nur das kann ich reden!“ (4. Mose 22,38)
Den letzten Vortrag am Sonntagmorgen hielt der erst jüngst promovierte Dr. Raphael Zager, jetzt Marburg, zum Thema „Braucht eine liberale demokratische Gesellschaft ein liberales Christentum bzw. eine liberale Religion?“
Er begann mit dem Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Damit ist impliziert, dass die christliche Religion die Grundlage dessen bildet, worauf der bundesrepublikanische Staat gegründet wurde. Doch immer mehr Menschen rufen nach einer noch strikteren Trennung von Staat und Kirche. Nicht jeder Politiker schwört seinen Amtseid mit der Formel „So wahr mir Gott helfe.“
Zager stellte die These auf, dass ein liberales Christentum am ehesten geeignet sei, mit einem freiheitlich-demokratischen Staat in ein positives Verhältnis zu treten. Und für diese These berief er sich auf die neueren Schriften von Jürgen Habermas. Über Jahrhunderte wurde in den unterschiedlichsten Kulturen die Religion als Legitimation von politischer Macht genutzt. Man konnte sich dabei sogar auf den Apostel Paulus berufen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.“ (Röm 13,1) Dieses Denken setzte sich auch in der Zwei-Regimente-Lehre Martin Luthers fort, die aber auch die Grundlage zur Trennung von Staat und Kirche im modernen, säkularen Staat bildet. War Anfang des 20. Jahrhunderts Kaiser Wilhelm II. als Staatsoberhaupt noch der oberste Kirchenfürst „von Gottes Gnaden“, so wurde nach dem Ersten Weltkrieg die heutige Trennung von Staat und Kirche eingeleitet.
Trotz dieser Trennung blieb die christliche Religion ein notwendiger Partner im gesellschaftlichen Diskurs. Das zeigen auch die Spätwerke von Jürgen Habermas, der zu einer neuen, späten Einsicht hinsichtlich der bleibenden Bedeutung der Religionen für die moderne Gesellschaft gefunden hat. Habermas sieht durchaus einen Kampf der Kulturen (nach Samuel Huntington), aber weniger zwischen Christentum und dem Islam als vielmehr zwischen verhärteten Orthodoxien (im Westen wie im Osten) und liberaler Religiosität. Trotz eines andauernden Säkularisierungsprozesses werden sich die Religionen so schnell nicht aus der Welt verabschieden (Habermas’ Friedenspreisrede fand kurz nach dem 11. September 2001 statt).
Habermas sieht in der Religion nicht mehr, wie früher, eine „überholte Gestalt des Geistes“, die es zu überwinden gilt, sondern eine unentbehrliche Stimme im gesellschaftlichen Diskurs. Neben Wissenschaft und Technik müssen auch Religion und Kirche treten. „Der rasanten Entwicklung in Wissenschaft und Technik ist in aller Regel keine adäquate Entwicklung im Bereich der Moral oder des Rechts gefolgt, die den entsprechenden Potenzialen und den Gefahren gewachsen wäre.“
Aber Habermas fordert zwischen Wissenschaft und Religion auch noch ein Drittes, nämlich den Common Sense. Wissenschaft darf nicht allein für sich in Anspruch nehmen, vernünftig zu sein; religiöse Überzeugungen sollten nicht von vornherein als irrational abgetan werden. Ähnlich vorsichtig müssen aber auch die Religionen mit der Wahrheitsfrage umgehen. Sie sollten sich mit den Einsichten der Wissenschaften auseinandersetzen. Und sie müssen die demokratischen Grundsätze des Verfassungsstaates akzeptieren. Religionen haben sich für den öffentlichen Diskurs vor allem auf den Vernunftgebrauch einzustellen, denn anders als durch vernünftige Begründungen können die Religionen nicht überzeugen.
Das wirft die Frage nach der Sprache auf. Wenn eine religiös begründete Argumentation die Möglichkeit haben soll, gesamtgesellschaftliche Akzeptanz zu finden und am Ende sogar politisch umgesetzt zu werden, so muss sie vorher säkular übersetzt werden. Gerade die Religiösen müssen sich an dieser Übersetzungsarbeit beteiligen. Habermas geht davon aus, dass die Religionen eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft sein können, und er sieht in den Überlieferungen der Religionsgemeinschaften Lebensund Glaubenserfahrungen, in denen „etwas intakt bleibt, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann“. Als Beispiel für eine solche Übersetzungsarbeit zitiert Habermas die Rede von der Würde des Menschen, die ihm zufolge auf die biblische Sprache von der Ebenbildlichkeit Gottes zurückzuführen sei. Die liberale demokratische Gesellschaft kann laut Habermas nicht ohne Religion überleben.
Aber wie muss eine Religion beschaffen sein, um im gesellschaftlich-politischen Diskurs ernst genommen zu werden? Ein Fundamentalismus (oder eine verhärtete Orthodoxie) kann das nicht leisten. Nur eine „vernünftige“ Religion kann hier ernst genommen werden. Vernünftig heißt: die Akzeptanz des religiösen Pluralismus, die Anerkennung des Primats der Wissenschaften und die Akzeptanz des Verfassungsstaats.
Zager ist der Meinung, dass ein liberales Christentum diesen Kriterien am ehesten entspricht.
Im Anschluss fand noch eine Plenumsdiskussion mit den Referenten und der Zuhörerschaft statt, die von Dr. Margrit Frölich moderiert wurde. Insgesamt war dies eine Tagung, die die differenzierten Anliegen der Frankfurter Schule verständlich zu machen und mit einem liberalen Christentum ins Gespräch zu bringen suchte. Sie machte aber auch neugierig, sich noch näher mit der Kritischen Theorie zu befassen.
Moderatorin Dr. Margrit Frölich
In meinem letzten Beitrag zum Thema in Heft 5/2024 ging es darum, wie die Transzendenzerfahrung Jesu im Zusammenhang seiner Begegnung mit dem Täufer Johannes ihn auf seinen ganz eigenen Weg des Wirkens wies, daher der Titel „Jesus findet seinen Weg“. Heute soll es darum gehen, wie jene Transzendenzerfahrung die Eigenheit dieses Weges geprägt hat, was freilich nur an ganz wenigen Beispielen gezeigt werden kann. Natürlich ist mein Text hypothetischer Art, aber was immer wir über den „historischen Jesus“ zu wissen glauben, kann aufgrund der Überlieferungssituation immer nur hypothetischer Art sein.
Bericht: Dr. Kurt Bangert
Fotos: Dorothea Zager
„Angelus Novus“ von Paul Klee (Foto: Paul Klee, Public Domain)